Von der Mauer zum Weg -
Das Labyrinth als Bild der Wandlung


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von Lothar Bracht
(zuerst erschienen in: "Die Drei", 1/00)

Wer heute die Bögen und Kehren des Labyrinths von Chartres nachgeht und erlebt, eingetaucht in das wunderbare farbige Licht dieser großen Kathedrale, kann von einem Ahnen ergriffen werden, so wie es vielleicht auch vor den Pyramiden in Gise oder dem Parthenon in Athen erlebbar ist. Dieser Ort, dieser Weg des Labyrinths hat einen inneren Zusammenhang mit mir als Mensch, mit der Entwicklung meiner selbst und unserer Kultur, ja mit dem Werden und Fortschreiten der gesamtenMenschheit. Gibt es eine Möglichkeit im Umgang mit dem Labyrinth, dieses Ahnen zu konkreten, greifbaren, heute verständlichen Bildern zu verdichten? Ein Labyrinth ist kein Irrgarten. Wer das Labyrinth von Chartres läuft, erlebt keine Irrwege, sondern einen Weg, der rhythmisch mit seinen Bögen und Kehrtwendungen gegliedert ist, und auf dem längsten möglichen Weg auf engstem Raum sicher und eindeutig ins Innere führt. Wenn das Sich-verirren- Können nicht die Aufgabe des Labyrinths ist, worin liegt dann die Bedeutung, die Aufgabe dieses faszinierenden Weges? Dieser Weg selbst hat eine Entwicklung durchgemacht, an der vielleicht am ehesten das, was uns in Chartres ergreift, anschaubar wird. Woraus hat sich dieser Weg entwickelt, der mit dem Weg von Chartres eine äußere Vollendung und Vollkommenheit erreicht? Wohin und wie hat sich dieser äußere Weg nach Chartres entwickelt und wird er sich weiter entwickeln?



Zur Beschreibung des Anfangs möchte ich Sie als Leser kurz mit in die ägyptische Wüste zu Ibrahim Abouleish mitnehmen, der dort mitten in der endlosen Wüste vor vielen Jahren die Sekem-Farm gründete. Auf dieser Farm gab es eine alte kreisrunde, brüchige, nur notdürftig, scheinbar in großer Eile errichtete, von Rissen durchzogene Lehmmauer.Ohne jedes Fenster, ein vollständiger Kreis mit nur einem einzigen engen Eingang. Das Ganze bot einen jämmerlichen Anblick und wir Bauleute verzweifelten an der uns gestellten Aufgabe, aus dieser Wand die erste Schule von Sekem zu bauen. Spät in der Nacht saßen wir mutlos außen vor einem Teil der Mauer, welche beim Hineinschneiden eines Fensters in sich zusammengefallen war. Wir holten Dr. Abouleish – und es lag die unausgesprochene Frage in der kalten Wüstennachtluft: Soll das wirklich sein mit der neuen Schule aus dieser alten Wand? Einige Minuten standen wir schweigend vor den Trümmern. Plötzlich ging Dr. Abouleish um die Mauer herum bis zum engen Eingang und bat uns alle herein. Wir saßen zusammen auf dem Boden, tranken heißen Kaffee und er erzählte von den ersten Tagen hier draußen in der Wüste:
»Nur Sand, unendliche Weite, tagsüber flimmernde Hitze, nachts empfindliche, in die Knochen ziehende Kälte. Bis abends ungeschützt gegen Sonne und Wind bis an die Grenze zur Bewusstlosigkeit arbeitend, morgens nach langer Nacht mit erstarrten Gliedern ungeschützt in dieser ewigen ungeschützten Weite aufwachend. Ein Holz in den Boden gehauen, mit der Schnur einen großen Kreis gezogen und auf diesen Kreis so schnell wie möglich eine Mauer aufgetürmt, so hoch, dass sie vor dem Wind der Weite schützt. Fast als ganzer Kreis gebaut, nur ein kleiner Durchschlupf, um herein- und herauszukommen. Die Welt war eine andere geworden. Jetzt gab es nicht nur ein Außen, eine weite unendliche Wüste, in der man sich verlieren konnte, sondern auch ein Innen. Einen Raum, der schützt, in dem man zur Ruhe kam, in dem man überhaupt nachdenken konnte über all das, was draußen den Tag über mit einem geschehen war. Mochte der Tag noch so stürmisch gewesen sein, mögen Zweifel und Sorge, ob der Wüstenwind nicht doch auf Dauer der Stärkere ist und alles hinwegfegen wird, einen geplagt haben. Hier drinnen mit einem heißen Kaffee in den klammen Fingern konnte man die Kraft finden weiterzumachen. So wie heute.«
Die Schule wurde fertig. Aus dem engen Schlupf, der nur ein Loch in der so wichtigen, die Extreme trennenden Mauer war, wurde nun der Schuleingang. Das unbedeutende Loch, welches am besten gar nicht da gewesen wäre, da es die schwächste Stelle in der schützenden Wand war, wurde nun Eingang, Geste und Aufforderung: »Du, komm herein, klopf dir den Staub ab und lass uns hier drinnen zusammen was lernen.« Weitere Bauten entstanden in diesem von Extremen geprägtem Land: kalt-heiß, Reich-Arm, Wüste-Fruchtland. In der Arbeit zu den Bauten entsteht ein Motiv, welches in Sekem in jeder Tätigkeit, in jedem Wort, in jeder Aufgabe sich zeigt. Es gilt, eine Möglichkeit zu finden, scheinbar unüberbrückbare Gegensätze zu vermitteln. Genau das, was dazwischen liegt, zu fördern, zu pflegen und zu entwickeln.
Es entstehen weitere frühe Rundbauten, aber sie erfahren eine kleine Verwandlung. Die Mauer wird als Mauer ein wenig wacher. Sie ist nicht mehr ein einfacher Kreis, in den man als Eingang ein Loch schneidet, sondern die Wand bekommt zwei Enden. Das eine zieht nach innen, das andere nach außen. Plötzlich gibt es einen Bereich zwischen den Mauern. Einen Eingangsbereich, ein Vordach. Hier steht eine Bank, hier wächst im Halbschatten eine Blume. Man ist drinnen, aber noch nicht drinnen. Man ist draußen, aber noch nicht draußen. Hier trifft man sich, hier findet Begegnung statt. Hier passiert Soziales, was weder ganz drinnen noch ganz draußen möglich ist. Eine Spirale entsteht, die neben der Qualität von innen und außen auch die Qualitäten des Überganges von dem einem zum anderen hat. Ein Stück Weg ist entstanden, welcher im innersten Punkt einen Umkehrpunkt hat. Wenn diese Spirale 8 Windungen erhält und man dann das äußere Ende mit dem inneren Ende verbindet, ist es nicht mehr weit bis zu der Mauer des kretischen Labyrinths. Von den 7 entstehenden Kreuzungen kann die mittlere Kreuzung als einzige bleiben. Die anderen Kreuzungen werden jeweils aufgelöst durch das Entstehen einer Kehre. Damit ist die Mauer des kretischen Labyrinths entstanden. War am Anfang nur die Mauer wichtig, gab es einen Übergangsbereich bei den späteren Bauten in Ägypten, so gibt es hier einen Weg, der genauso wichtig ist wie die Mauer. Es ist ein kreuzungsfreier, eindeutiger Weg mit 4 Kehren. Er ist bekannter geworden als die dazugehörige Mauer. Die Sage von Theseus, der mit Hilfe der Ariadne den Minotauros besiegt, hat dem Weg den Namen »Ariadnefaden« gegeben.
Wer oder was ist der Minotauros, wofür steht ein Ariadnefaden, wenn der Weg ins Labyrinth ein eindeutiger ist? Hermann Kern, der sich intensiv mit Labyrinthen beschäftigt hat, fasst sein wertvolles Buch in diese wenigen Zeilen zusammen:

Im Labyrinth verliert man sich nicht,

im Labyrinth findet man sich,

im Labyrinth begegnet man nicht dem Minotauros,

im Labyrinth begegnet man sich selbst.


Wenn man im Labyrinth zu sich selber findet, eine Begegnung mit sich selbst hat, was kann dann mit dem Ariadnefaden gemeint sein? Ein kleiner Hinweis, den das Wort selber gibt, liegt in einer Reihe von Begriffen, die man zum Faden denken kann, aber auch zu Gedanken. Einen Faden kann man knoten, knüpfen und spinnen genauso wie Gedanken.
Alle Qualitäten, die im kretischen Labyrinth vorhanden sind, kommen verwandelt und erweitert im Labyrinth von Chartres wieder vor. Auch dieses Labyrinth kann man in ähnlicher Weise wie das kretische Labyrinth aus der Spirale entwickeln. Es ist dann jedoch stärker geometrisiert worden. Aus den spiralförmigen, mit einer gewissen Dynamik ausgestatteten Bögen sind nun kreisrunde Abschnitte geworden. Sie haben den gleichen Mittelpunkt wie die dazugehörigen Mauern, was diese fast unnötig macht. Es zählen nur noch die Wege. Das Kreuz aus dem kretischen Labyrinth gibt es so nicht mehr, kann es im Weg selbst nicht geben. Der ganze Labyrinthweg hat aber als Geometrie das Kreuz bekommen. Der Weg »weiß« um das Kreuz und kann es deshalb weglassen, verschweigen, so wie die gesamte Kathedrale von Chartres um das Geheimnis von Kreuz, Kreuzigung und Tod weiß und es deshalb nicht zu zeigen braucht. Da, wo viele Kirchen im Mittelpunkt der Kreuzrippengewölbe einen Schlussstein haben, der das Kreuz physisch ausfüllt, hat Chartres als Schlusssteine gehauene Ringe, welche die Kräfte aufnehmen und die Mitte freilassen. Durch einen solchen Schlussstein ist das bekannte Foto (S.10) aufgenommen. Man sieht den Weg, den der »Labyrinthwandler« vor sich hat, im Überblick von oben. Noch nicht ganz auf der Achse der Kathedrale beginnend, durchläuft und durchlebt er das Labyrinth und gelangt schließlich genau auf der Achse der Kathedrale, dem Sonnenaufgang entgegen, in das Zentrum. Ein großer äußerer Weg ist hier zu Ende, der »Wandler« ist angekommen. Jetzt ist er reif, vorbereitet für das, was Aufgabe der Kathedrale ist. Er steht auf der Schwelle zur Zukunft. Erst hier, erst jetzt steht der Pilger als Einzelner, an diesem innersten Punkt vereinsamt, nur mit sich selbst, und erlebt im Gegenüber nun den Innenraum der Kathedrale, das eigentlich Bedeutende dieses Bauwerkes. War er bis hierher in seiner Entwicklung von einem Strom getragen und sein Weg geführt, so beginnen jetzt die Etappen seines Weges, die im Inneren aus eigener Kraft beschritten werden müssen. So wie der Innenraum der Kathedrale, mit all seinen Farben, an diesem Punkt dem Pilger erst wirklich bewusst wird, so wird ihm auch sein eigenes Inneres zu einem gewissen Grad erst jetzt bewusst.
Das ist das Ur-Erlebnis von Chartres. Der Mensch beginnt sich seiner selbst bewusst zu werden. Er stellt sich nun bewusster in einen neuen freieren Zusammenhang zu sich selbst und zur Welt. Wie kann man sich dies verdeutlichen? Der Weg dieses Labyrinthes ist gekennzeichnet von 4 x 7 = 28 Kehren. Wer kennt nicht das Erlebnis mit solchen Kurven auf einer Gebirgsstraße? Beim Heraufkommen reicht der Blick immer nur bis zur nächsten Kurve. Gelangt man jedoch weiter nach oben, so überschaut man plötzlich den gesamten Weg, den man selbst gekommen ist. Diese Bewusstheit der eigenen Entwicklung gegenüber, um die es im Großen geht, wiederholt sich hier im Kleinen, in den 28 Kurven. Wäre jede Kurve des Labyrinthweges ein Geburtstag des Pilgers und der Weg zwischen zwei Kehren das Jahr, in dem der Pilger älter wird (das wird er ja eben nicht auf einen Schlag an seinem Geburtstag), so könnte er die Entwicklung seines eigenen Lebens bis zum 28. Geburtstag selber miterleben. Natürlich wurde nicht jeder Pilger an diesem Ort 28 Jahre alt. Aber in einem gewissen Sinne lebt die gesamte Menschheit mit der Epoche, zu welcher auch der Bau der großen Kathedralen gehört, in einer Zeit, die mit dem 28. Geburtstag beginnt. Der Einzelne ist erwachsen geworden und es wird ihm von diesem Moment an zugetraut, die Zukunft zu gestalten.



Große Umbrüche, vielleicht ein ganz anderes Leben, mag dem Pilger in diesem Moment vor Augen gestanden haben. Ist es heute nicht ähnlich? Wer kennt nicht einen Menschen unter seinen Bekannten, der um diese Zeit herum, mit 28 Jahren, noch einmal ganz neu für sein Leben entscheidet. Oft Entscheidungen, die nur schwer nachvollziehbar sind, denn sie kommen aus den Tiefen der Bewusstwerdung seiner selbst, und lassen sich nicht aus dem bisherigen äußeren Lebensweg so einfach erklären. Was hat das nun für eine Bedeutung für uns heute? Wir werden nicht als Pilger durch das Labyrinth geschickt. Wir erleben in dieser Art nicht noch einmal nach, wie der Mensch in 4 x 7 Stufen über einen sicheren Weg in die Welt hineinrhythmisiert wird. Heute ist dies wohl anders. Bewusster, freier stehen wir in der Welt. Das heißt jedoch nicht, dass nicht auch für uns die Gesetzmäßigkeiten des sich »Entwickelnden« gelten. Nur wirken sie nicht mehr so von alleine. Die Eltern, die Lehrer, ja jeder hat für jeden die Aufgabe, dazu beizutragen, dass der Mensch sich im Einklang mit der Welt und deren Rhythmen entwickeln kann. Es wird uns also zugemutet, aber eben auch zugetraut, an der Entwicklung unserer selbst und unserer Mitmenschen mitzugestalten.
Die Mauer des Labyrinthes als äußere Stütze und äußerer Schutz zieht sich immer weiter zurück. Die Führung, welche durch die Mauer gegeben war, geht über in ein Bewusstsein, welches von innen heraus diese Führung übernimmt. Das Labyrinth ist in den letzten Jahren wieder stärker in das Bewusstsein der Menschen gerückt. Bücher, Ausstellungen, in große Maisfelder geschnittene Labyrinthe erfreuen viele Interessierte. Immer wieder taucht dann auch die Frage auf: Wie sieht denn ein heute modernes Labyrinth aus? Was wären es für Wege? Was wäre denn eine nächster Schritt nach Chartres, nach diesem Labyrinth, welches im Äußeren so perfekt, so fertig, so vollkommen ist? Neben dem, dass das Leben selber wohl diese Aufgabe restlos individuell, mit jedem einzelnen Menschen übernommen hat, wäre es einmal interessant, unter einem solchen Aspekt in künstlerischen Bereichen zu suchen. Gibt es etwas, wo bis in die Darstellung Wege gegangen, getanzt, erlebt werden, die gänzlich von innen gegriffen und geführt werden wollen? Wo der Weg nicht zufällig ist, sondern Ausdruck von Qualität, die nicht von außen gegeben wird, sondern von einem Einzelnen innerlich erlebt wird und durch ihn hindurch als Form wieder in Erscheinung tritt? Vielleicht könnten Eurythmisten dazu etwas sagen oder tun.

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